Im Herzen von Hermannstadt erhebt sich der markante Ratsturm. Er ist für jeden der beste Ausgangspunkt, der zu Fuß die Stationen der Geschichte Hermannstadts durchwandern möchte. Der Turnul Sfatului, so die rumänische Bezeichnung, ist das Wahrzeichen der Stadt, uralt, doch nicht ohne bauliche Eleganz. Er stellt das Bindeglied zwischen dem Kleinen und dem Großen Ring dar, eine kosmische Achse, die seit Jahrhunderten innig mit dem Leben der Hermannstädter verwoben ist. Hat man erst die Spitze des Turmes erklommen, ist der Blick nach unten atemberaubend: eine Oase urbaner Schönheit breitet sich zu Füßen aus.
Heutzutage nimmt man den Rats- oder Rathausturm nur als historisches Denkmal war, doch seine Geschichte beginnt in den Jahren 1224-1241 – als Zugangstor zum zweiten Befestigungsgürtel der Stadt. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft befand sich der Versammlungsort der städtischen Ratsherren, wovon der Ratsturm auch seinen Namen erhielt. Vom ursprünglichen Turm überdauerte allerdings nur ein Teil der Grundmauern bis hinauf zum ersten Stockwerk, denn im Lauf vieler Jahre veränderte sich das äußere Erscheinungsbild. Nach einem verheerenden Erdbeben im Jahre 1588 entschied man sich für eine Aufstockung des Turms oberhalb der ursprünglichen vier Geschosse. Ein Ende war damit nicht in Sicht: Zu wiederholten Malen gab man durch umfassende Um- und Ausbauten dem Bauwerk eine neue Gestalt.
Als unmittelbares Zeugnis der ältesten Besiedelungsschicht Hermannstadts schlägt der Ratsturm in seiner wechselnden administrativen, militärischen und kulturellen Funktion einen Bogen zwischen den einzelnen Epochen der Stadt.
Lang ist die Liste seiner Aufgaben: Stadttor, Feuerwachturm, Kerkerbau, Getreidedepot, Museum, Aussichtssichtsturm. Von Anbeginn an wachte der Ratsturm aber auch als stummer Zeuge der Geschichte sehenden Auges über die Dächer der Stadt.
Er sah das rege Geschäftstreiben auf den Marktplätzen genauso wie Bürgerversammlungen, über ihm schwebte irgendwann zwischen den Weltkriegen ein Zeppelin, auch schlängelte sich einstmals die Straßenbahn der Hermannstädter entlang seiner Mauern. In seinem Schatten suchten viele Rast – Adelsprominenz genauso wie grausame Eroberer, geschäftige Einheimische, aber auch touristische Bohémiens und zahme Tauben. Wenn einer aus dem Nähkästchen Hermannstadts plaudern könnte, dann der Ratsturm: er würde von dem erzählen, was sich auf den beiden Plätzen zu seinen Füßen abspielte – von den mittelalterlichen Hinrichtungen bis hin zu den Konzerten und Festivals unserer Tage. Und er könnte bestätigen: das dynamische Hermannstadt wuchs und wächst an seinem multikulturellen Erbe – und ist immer für eine Überraschung gut!
Man betritt den Turm durch eine enge Pforte, die über den Kleinen Ring zu erreichen ist. Auf der vorletzten Etage tickt der ausgefeilte Mechanismus des Turmuhrwerks im Einklang mit dem Rhythmus der Schritte auf dem Großen Ring. Von ganz oben herab wacht der Turm in alle vier Himmelsrichtungen, um die Stadt auch in Zukunft vor allem Schaden zu behüten.
Text : Heike Lammers